Nr. 38, 1/1997: 5-21 Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik

von Sophinette Becker

 
Pädophilie zwischen 
Dämonisierung und Verharmlosung
Sophinette Becker, Dipl. Psych., arbeitet als Psychoanalytikerin an der Abteilung für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt und ist Mitherausgeberin der renommierten "Zeitschrift für Sexualforschung". Sie referierte im März 1997 auf der Tagung der Sexualberatungsstelle in Salzburg zum Thema "Transsexuelle - die letzten (echten) Frauen und Männer". Nun präsentiert sie uns ihre Sichtweise der Pädophilie.
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Pädophilie ist innerhalb der Sexualwissenschaft ein relativ vernachlässigtes Thema, zu dem es nur wenige fundierte Untersuchungen gibt. Gleichzeitig - und damit zusammenhängend - ist Pädophilie ein hoch kontroverses Thema in der Sexualwissenschaft.

Wenn fünf Sexualwissenschaftler privat zusammensitzen, und einer schneidet das Thema Pädophilie an, bricht innerhalb kurzer Zeit heftiger Streit aus. Werfen die einen den anderen Feigheit, Konformismus, biedere Moralisierung, Ausgrenzung von Minderheiten vor, schlagen die anderen mit dem Vorwurf der Verharmlosung, Verleugnung, Pseudo-Fortschrittlichkeit zurück. Ein heterosexueller Sexualwissenschaftler wirft einem homosexuellen Kollegen vor, die Homosexuellen hätten sich auf Kosten der Pädophilen emanzipiert, und erhält zur Antwort, er solle sich doch bitte selber emanzipieren, statt seine Emanzipationswünsche an andere zu delegieren. Die einen beharren darauf, daß es auch pädophile Beziehungen zu Kindern gebe, die so fürsorglich seien, daß das sozial und emotional deprivierte Kind überwiegend von dieser Beziehung profitiere, auch wenn es vor allem Zuneigung und weniger Sexualität wolle. Die anderen halten dagegen, daß man diese Position besonders gut vertreten kann, wenn man seine eigenen Kinder aufgrund guter sozialer Bedingungen für immun gegenüber Pädophilen hält, und daß es eher angebracht wäre, darüber nachzudenken, wie man die soziale und emotionale Lage von Kindern verbessern kann. Die einen halten Pädophilie für eine erotisch-sexuelle Präferenz, die anderen für eine Fixierung etc. Natürlich findet die Auseinandersetzung nur inoffiziell auf diesem emotionalisierten Niveau statt. Aber das Thema "Pädophilie"/"Pädosexualität" setzt offensichtlich bei allen Menschen heftige Affekte frei. Auch bei den Verfassern des Einladungstextes von heute und auch bei den Sexualwissenschaftlern, die sich um einen rationalen Zugang bemühen. Die Debatte über Pädophilie in der Sexualwissenschaft ist immer auch geprägt von dem jeweiligen gesellschaftlichen Diskussionsstand, der Reaktion auf ihn und der Reflexion über ihn. Ich will das im folgenden ein bißchen nachzeichnen. [5]

Ende der 60er-Jahre brachte der damalige Justizminister Heinemann die überfällige Reform des Sexualstrafrechts in Gang. (Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an diesen gräßlichen Kuppelei-Paragraphen, an die Diskriminierung der Homosexuellen, an das Verbot von Literatur wegen "Obszönität" usw.) In den repressiven 50er-Jahren schützte der ständig beschworene "Schutz der Minderjährigen" diese nicht vor Erwachsenen, sondern im Wesentlichen die Jugendlichen vor ihren eigenen Bedürfnissen. Das gesellschaftliche Klima war damals geprägt von der verleugneten Aggressivität und Destruktivität - insbesondere der des nur kurz zurückliegenden Nationalsozialismus - und von tabuisierter, unterdrückter Sexualität. (1) Gleichzeitig wurde immer und überall etwas sexuell Verbotenes gewittert, es wurde häufig vor dem "bösen fremden Onkel" gewarnt, und gleichzeitig wurde der Inzest in den Familien übersehen.

Der Sonderausschuß zur Reform des Sexualstrafrechts (1970), der zu allen Fragen viele Sachverständige einlud, bemühte sich um einen nicht von Affekten geleiteten Umgang - auch mit dem Thema Sexualität mit Kindern - und bat die Experten deshalb, sich nicht nach allgemeiner Anschauung sondern empirisch begründet unter anderem zu folgenden Fragen zu äußern:

Welche Wirkungen sind bei einem Kind bis zu 14 Jahren von sexuellen Handlungen eines anderen an dem Kind oder vor dem Kind zu erwarten, und welche Wirkungen sind bei einem Kind von dem Strafverfahren wegen eines solchen Vorganges zu erwarten?
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Schadens? (2)

Die Mehrheit der befragten Experten (Sexualwissenschaftler, Psychiater, Kinderpsychiater, Psychoanalytiker u.a.) verneinte (soweit empirisch feststellbar) psychische Dauerschäden als isolierte, linear-kausale Folge nicht gewaltsamer sexueller Handlungen. (Das mag Sie heute wundern.) Sie betonten den Kontext, das Beziehungsgefüge, in dem solche Handlungen geschehen, und die Reaktion der Umgebung, was für viele der damals angezeigten Fälle auch wichtig war. Auch heute, obwohl wir manches anders bewerten, ist es immer gefährlich, wenn man die sexuelle Handlung oder den sexuellen Akt loslöst von dem Beziehungsgeschehen und dem sozialen Kontext. Offensichtlich äußerten sich die damals befragten Experten nicht zu längeren Beziehungen. Es ging also weder um chronischen, langen inzestuösen Mißbrauch in der Familie noch um längere pädophile Beziehungen. [6]

In dieser Anhörung äußerte der Sexualwissenschaftler und Forensiker Eberhard Schorsch u.a. folgenden Satz: "Ein gesundes Kind in einer gesunden Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen." Diese Aussage wurde später gerne von pädophilen Ideologen zitiert. (Ich unterscheide zwischen Pädophilen und pädophilen Ideologen; zu den Ideologen zähle ich diejenigen, die ihr subjektives Interesse an Kindern als progressiv im Sinne der kindlichen Sexualität ideologisieren.) Schorsch selbst hat sich 1989 deutlich von seiner Aussage distanziert und hat auch reflektiert, daß er u.a. von der 1970 bestimmenden Utopie der sexuellen Liberalisierung geprägt war.

Der bekannte Topos der Diskussion dieser Zeit war, daß die Unterdrückung der Sexualität zu psychischen Störungen und damit zu einer unfreien Gesellschaft führt. Wir wissen heute, daß dies nur zum Teil richtig war; natürlich empfinden wir es als einen Segen, daß heute nicht mehr viele Jungen unter schwersten Schuldgefühlen bei der Onanie leiden. Daß bestimmte Tabus geringer geworden sind und daß sie früher schädlich waren, ist unbestritten, aber das war eben nur die eine Seite der Medaille, so daß man sagen kann, die sexuelle Befreiung war berechtigt, aber sie hatte auch Grenzen. Die Berechtigung und das gleichzeitige Scheitern der Utopie der sexuellen Befreiung ist ein Beispiel für die Dialektik der Aufklärung. (3)

Etwa seit Mitte der 70er-Jahre (in Holland schon früher) organisierten sich Pädophile in der Bundesrepublik als Subkultur bzw. als Emanzipationsbewegung. [7] Mehrheitlich waren diese organisierten Pädophilen "Jungen-Pädophile". (4) Diese Gruppen formulierten und artikulierten - zum Teil auch laut - die pädophile Ideologie, die in etwa besagt: "Wer gegen pädosexuelle Kontakte ist, unterdrückt die Sexualität des Kindes". Diese Ideologie fand (vor der Mißbrauchsdebatte, die die letzten Jahre bestimmt hat), zum Teil Anklang in fortschrittlichen Kreisen (nicht nur in der "Indianerkommune" in Nürnberg, sondern bis hin zu Grünen Landesverbänden).

Die Sexualwissenschaftler setzten sich mit der pädophilen Ideologie auseinander und versuchten, ihre Widersprüchlichkeit freizulegen. Günter Amendt, Verfasser des berühmten Werkes "Das Sexbuch" und vehementer Kämpfer für eine von Tabus und Schutzalterbestimmungen befreite Sexualität von Jugendlichen, wendet sich 1984 (5) dezidiert gegen sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und vorpubertären Kindern und weist der pädophilen Ideologie Sozialdarwinismus (Recht des Stärkeren) und vor allem die rationalisierende Verleugnung der Sexualität in pädophilen Beziehungen nach. (6) Amendt denunziert jedoch nicht die Pädophilen selbst, deren Tragik er erkennt, sondern nur die pädophile Ideologie.

Martin Dannecker setzt sich 1987 mit der von der pädophilen Ideologie behaupteten sexuellen Gleichberechtigung (Gegenseitigkeit zwischen Erwachsenen und Kind) auseinander und arbeitet die prinzipielle Ungleichzeitigkeit heraus, die sich allein daraus ergibt, daß der eine Partner sich jenseits und der andere sich diesseits der Pubertät befindet: "In der Pubertät kommt es bekanntlich zu einer Reihe von charakteristischen Umgestaltungen in der sexuellen Organisation, von denen die Objektfindung für unseren Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist. Mit Objektfindung ist die erst nach der Pubertät erreichbare Konturierung des sexuellen Objekts gemeint. Zwar werden die entscheidenden Weichen für die spätere Sexualorganisation schon in der frühen Kindheit gestellt. Aber erst nach der Pubertät erwirbt ein Individuum ein Bewußtsein über seine in der Kindheit präformierte Sexualorganisation. Nicht anders verhält es sich mit der Objektgewinnung in der Pubertät, die, genauer gesagt, eine Objektaneignung ist. In der Pubertät wird das präformierte Sexualobjekt sowohl bewußt als auch endgültig zentriert. Mit dieser bewußten Aneignung des sexuellen Objektes wird auch ein wesentliches Stück der sexuellen Identität angeeignet. Das Individuum beginnt sich, entlang seines Sexualobjektes als heterosexuell, homosexuell, [8] bisexuell oder pädosexuell etc. wahrzunehmen. Für das Sexualleben ist die bewußte Aneignung eines sexuellen Objektes insofern von Bedeutung, als schon aus den Reizen, die vom Objekt ausgehen, und durch die auf das Objekt zielenden Interessen sexuelle Lust gewonnen werden kann. Voraussetzung für diese Objektlust ist demnach die Aneignung des sexuellen Objektes und dessen Integration ins Bewußtsein.

In der pädosexuellen Beziehung aber gibt es nur einen Partner mit solchen Voraussetzungen. In ihr fehlt eine Reziprozität der Objekte, weshalb es auch widersinnig ist, die kindliche Sexualität unter dem Blickwinkel der Pädosexualität zu betrachten. Pädosexuell kann nur der Erwachsene sein. Die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem, die im Blick auf die Konturierung und Strukturierung des sexuellen Objektes herrscht, bringt es notwendig mit sich, daß dem Kind bei einem sexuellen Kontakt das Sexualobjekt sozusagen aufgedrängt wird. Das wird besonders am Anfang einer pädosexuellen Begegnung deutlich. Während das Interesse des Pädophilen am Kind von Beginn an auch sexueller Natur ist, kann das beim Kind nicht unterstellt werden.

Nicht das Kind, sondern ausschließlich der Erwachsene verspürt einen sexuellen Reiz. Nehmen wir einmal an, der auf diese Weise gereizte Erwachsene gibt seinen Phantasien nach und ruft das Kind zu sich. Nehmen wir ferner an, das Kind folgt dem Ruf des Erwachsenen. Während der letztere bereits sexuelle Lust verspürt und sexuell erregt auf das Eintreffen des Kindes wartet, macht sich das Kind auf den Weg, ohne eine sexuelle Begegnung zu antizipieren. Zwischen dem Erwachsenen und dem Kind herrscht eine Disparität der Wünsche, die nur schwer zu überbrücken ist. Diese Disparität führt dazu, daß der Erwachsene nach dem Eintreffen des Kindes seine sexuellen Wünsche zunächst einmal erst wieder zurücknehmen muß. Mit großer Anstrengung wird er versuchen, eine Situation herzustellen, die es ihm ermöglicht zu glauben, die Wünsche des Kindes seien mit seinen eigenen kongruent." (7)

Das ist das unausweichliche Dilemma der Pädophilen, an dem sie immer wieder scheitern, um das letztlich auch viele wissen und es durch Selbstkontrolle zu mindern versuchen, indem sie den nicht-sexuellen Kontakt sehr ausbauen. Und dieses Dilemma ist es auch, das die pädophile Ideologie zu verschleiern versucht.

Danneckers Herausarbeitung der Ungleichzeitigkeit knüpft an den berühmten Text des ungarischen Psychoanalytikers Sandor Ferenczi [9] "Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft" aus dem Jahre 1932 an. Dannecker ergänzt diesen Text um den wichtigen Aspekt der Formierung des Sexualobjektes. (Ferenczis Text ist immer noch sehr aktuell und hilfreich für das Verständnis und die Psychotherapie von Inzestopfern, d.h. Opfern sexueller Traumatisierung innerhalb der Familie.) (8)

Danneckers Ergänzung der Thesen Ferenczis um den Aspekt der Formierung des Sexualobjektes erscheint mir unter anderem hilfreich für das Verstehen psychischer Folgen pädophiler Beziehungen. In unserer Abteilung für Sexualwissenschaft begutachten wir Homosexuelle, die zur Bundeswehr einberufen werden und befürchten, hierdurch Schaden an ihrer Seele zu nehmen. Eine Reihe von ihnen hatte in ihrer Kindheit sexuelle Kontakte zu Pädophilen (ca. mit 10-12 Jahren), die sie insgesamt eher als positiv bewerten. Sie schilderten, wie toll sie es fanden, so begehrt und idealisiert zu werden, und daß sie die Macht über den Pädophilen genossen. Was mir aber dann auffiel, war, daß alle diese Männer große Probleme mit der Akzeptanz ihrer Homosexualität hatten und diese teilweise als Ich-dysthon erlebten. Aufgrund dieser klinischen Erfahrung bin ich - im Gegensatz zu der weitverbreiteten These, Pädophile würden Jungen zur Homosexualität verführen - zu der Auffassung gekommen, daß sexuelle Kontakte mit Pädophilen homosexuelle Entwicklungen erschweren.

Die prinzipielle Ungleichzeitigkeit in der Sexualität des Erwachsenen und der des Kindes wird in der Sexualwissenschaft nicht mehr bestritten. Selbst nicht von Rüdiger Lautmann, dem Verfasser des umstrittenen Buches "Die Lust am Kind". (9)

In den letzten Jahren dominiert gesellschaftlich nicht mehr der Topos von der sexuellen Befreiung. Die pädophile Ideologie existiert noch, aber sie ist gesellschaftlich eher schwach und wird kaum von jemandem unterstützt. Daß dies so ist, hat nicht nur mit der enttäuschten Utopie der sexuellen Liberalisierung und der allgemeinen gesellschaftlichen Enttäuschung gegenüber Utopien überhaupt zu tun, sondern auch mit der seit Jahren geführten Debatte über den sexuellen Mißbrauch. Es war und ist nicht leicht, in dieser Debatte einen kühlen Kopf zu behalten. Die Parteilichkeit für die Opfer (ich behandle solche) heißt für mich auch, zu [10] widersprechen, wenn alles und jedes (z.B. jedes erotische Signal eines Erwachsenen) zu sexuellem Mißbrauch erklärt wird weil dadurch letztlich die Traumata der wirklich Betroffenen nicht ernst genommen werden. Es heißt für mich auch zu widersprechen, wenn jede psychische/psychosomatische Störung (z.B. Eßstörungen, die sehr verschiedene Ursachen haben können) generell mit sexuellem Mißbrauch erklärt wird. Es bedeutet auch, Patienten aufzufangen, die verstört zu mir kommen, weil ihre Therapeuten versucht haben, sie dazu zu zwingen, sich an einem vermeintlichen sexuellen Mißbrauch zu erinnern - und gleichzeitig sich für die Anerkennung der Realität des sexuellen Mißbrauchs einzusetzen, der nach wie vor verleugnet bzw. verharmlost wird.

Auch bei der Pädophilie ist eine Position jenseits von Dämonisierung und jenseits von Verharmlosung schwierig. Mein Referat heute ist kein Beitrag zur "Täter-Erkennung", kein psychologischer Steckbrief des "pädophilen Täters" - den es so einheitlich gar nicht gibt. Ich werde vielmehr im Folgenden versuchen, das Phänomen, die Erscheinungsform der Pädophile/Pädosexualität zu differenzieren.

Der Begriff der Pädophilie stammt von Krafft-Ebbing, einem der Begründer der modernen zunächst sehr stark an der Psychiatrie orientierten, d.h. phänomenologisch-beschreibenden, ordnend-klassifizierenden Sexualwissenschaft. Krafft-Ebbing und dessen Hauptwerk "Psychopathia Sexualis" (1896) stehen für den Übergang vom kriminalisierenden zum medizinalisierenden, psychopathologisierenden Blick auf abweichende Sexualität. (10) Seine genauen Beobachtungen und Beschreibungen sexuellen Verhaltens und Erlebens sind noch heute aufschlußreich, insbesondere darüber, was zeitbedingt war und was gleichgeblieben ist im sexuellen Verhalten und im Blick darauf.

Zu unserem Thema heute beschreibt Krafft-Ebbing zunächst recht drastisch die weit verbreiteten Formen des sexuellen Mißbrauchs damals, den er noch "Unzucht" bzw. "Schändung" nennt. (Er bezieht sich auf Kinder unter 14 Jahren). Seine Beispiele (darunter auch solche mit Erziehern, Kindermädchen etc.) sind oft sehr aktuell und erinnern an krasse Fälle aus der heutigen Zeit. Krafft-Ebbing empört sich, "wie sehr in Weltstädten solch eklen Bedürfnissen entgegengekommen wird". "Leider", schreibt er, "muß zugegeben werden, daß eine nicht geringe Zahl dieser und oft gerade der scheußlichsten Unzuchtsdelikte von nicht Geisteskranken [11] begangen werden, von Individuen, die aus Übersättigung im natürlichen Geschlechtsgenuß, aus Geilheit und Rohheit, so ´weit´ ihrer Menschenwürde vergessen."

Krafft-Ebbing unterscheidet dann zwischen nicht-psychopathologischen und psychopathologischen Fällen. Zu den nicht-psychopathologischen Fällen zählt er drei Gruppen:

1. Sogenannte Wüstlinge, die alle normalen und abnormen Arten des Geschlechtsverkehrs durchgekostet hätten und nun einen seelischen Kitzel, eine neuartige sexuelle Situation darin suchten, sich an der Scham und Verlegenheit eines Kindes (Mädchen oder Jungen) zu weiden.
2. Sozusagen die weiblich Variante davon, d.h. Kinder betreuende Frauen, die das Abhängigkeitsverhältnis der ihnen anvertrauten Schützlinge (im wesentlichen Jungen) ausbeuten. Er spricht von "lasziven Dienstmägden, Bonnen" etc. (Ob "wollüstige" Erzieher, die ihre Zöglinge ohne jede Veranlassung auspeitschen, noch zu den nicht-psychopathologischen Fällen gezählt werden können, möchte Krafft-Ebbing nicht entscheiden.)
3. Jugendliche, die ihrer Potenz und ihrem Mut, sich mit erwachsenen Frauen einzulassen nicht oder noch nicht trauen bzw. Angst und Potenzprobleme diesen gegenüber haben und deshalb auf Mädchen ausweichen.

Bei den "psychopathologischen" Fällen von "Unzucht" mit Kindern, nennt Krafft-Ebbing als zahlenmäßig größte Gruppe die Fälle aufgrund von "erworbene Geistesschwäche", d.h. hirnorganische Beeinträchtigungen durch verschiedenste Krankheiten (Alkoholismus, Syphilis, Altersschwachsinn etc.). Daß diese Gruppe zahlenmäßig so dominiert, hat unter anderem mit den damaligen Behandlungsmöglichkeiten zu tun. (Es gab noch keine Antibiotika und deshalb viele Menschen mit geistigen Defektzuständen aufgrund von Geschlechtskrankheiten.) In zweiter Linie nennt Krafft-Ebbing Fälle von angeborener geistiger Behinderung und passagäre Ausnahmezuständen, die zu Unzucht mit Kindern führen können.

Erst nach dieser langen Liste kommt Krafft-Ebbing zu der zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe, für die er den Ausdruck "Pädophilie" prägt: "Im Anschluß an die obigen Kategorien der sittlich Verkommenden, der originär oder durch geistige Hirnerkrankungen sittlich Geschwächten, sowie der durch eine episodische Sinnesverwirrung zu Schändern von [12] Kindern Gewordenen mögen aber noch Fälle Erwähnung finden, bei welchen weder tiefstehende Moral noch psychische oder physische Impotenz sexuell Bedürftige zu Kindern hin treiben, sondern vielmehr eine krankhafte Disposition, eine psycho-sexuale Perversion, die vorläufig als Paedophilia erotica bezeichnet werden möge."

Die "Paedophilia erotica", im Sinne einer sexuellen Perversion beschreibt Krafft-Ebbing vorwiegend bei Männern, aber auch bei Frauen, auf Kinder des eigenen oder des anderen Geschlechts gerichtet. Gemeinsame Charakteristiken sind nach Krafft-Ebbing:

1. Die Neigung zu unreifen Personen ist primär.
2. Die Betroffenen sind potent. (Abgrenzung von "Pseudo-Pädophilie" bei Impotenz.)
3. Die sexuellen Handlungen gegenüber den Kindern bestehen "in bloßer unzüchtiger Betastung und Onanisirung der Opfer. Gleichwohl führen sie zur Befriedigung des Betreffenden, selbst wenn er dabei nicht zur Ejaculation gelangt."
4. "Die Paedophilen sind unerregbar durch sexuale Reize des erwachsenen Individuums, an welchen der coitus nur faute de mieux und ohne seelische Befriedigung vollzogen wird."

Krafft-Ebbing setzt sich dann mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auseinander: "Die Paedophilia erotica kann an und für sich unmöglich Straflosigkeit für die aus ihr resultirenden Delikte bedingen, denn wie die bisherige Erfahrung lehrt, gelang regelmäßig Beherrschung paedophiler Dränge, solange nicht eine Schwächung oder Aufhebung sittlicher Widerstandsfähigkeit durch krankhafte Vorgänge sich hinzugesellte. [...] Die schließliche Erörterung der forensischen Beurtheilung der Unzuchtsdelikte an Kindern überhaupt hat zu berücksichtigen, daß leider häufig der Vermutung einer psychopathischen Begründung derartiger Delikte jeglicher Boden fehlt. Sie darf aber nicht übersehen, daß offenbar noch häufiger pathologische Momente im Spiele sind. Deshalb muß in jedem Fall, in welchem ein Erwachsener sich am Kinde vergreift, der Geisteszustand geprüft werden." (11)

Wenn ich Krafft-Ebbings Beobachtungen und Interpretationen mit meinen eigenen bzw. mit dem, was wir heute über Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern wissen, kontrastiere, fallen mir Parallelen und [13] Unterschiede auf. Interessant finde ich zunächst, daß er überhaupt nicht jeden sexuellen Mißbrauch von Kindern für psychopathologisch begründet hält, sondern im Gegenteil nur bei einer sehr kleinen Gruppe eine wirkliche psychosexuelle Fixierung auf Kinder konstatiert und nur diese pädophil nennt; ich teile diese Auffassung. Wenn ich mir Krafft-Ebbings erste nicht-psychopathologische Gruppe anschaue, dann würden wir natürlich heute nicht mehr von "Wüstlingen" sprechen; von Menschen, die aus Übersättigung nach immer neuen sexuellen Reizen suchen, allerdings schon. Dies gilt nicht nur für die sexuelle Ausbeutung von Kindern, denken Sie nur an die zunehmende Medialisierung von Perversionen aller Art. (12) Hinzu kommt heute der ganz wesentliche Faktor der Kommerzialisierung der Sexualität durch die Pornoindustrie.

Über die Kunden der Kinderprostitution in den Dritte-Welt-Staaten gibt es bis heute nur sehr wenige gute Untersuchungen. Nach dem, was ich kenne, kann man schon jetzt sagen: Ein Teil der Pädophilen (im engeren Sinne) frequentiert diesen Markt, aber sie stellen mit Sicherheit eher die kleinere Gruppe dar. Das gilt genauso für Kinderpornographie-Ringe, Freier von Strichern etc.

Bei Krafft-Ebbings "Wüstlingen", also der Gruppe von Erwachsenen, die Kinder sexuell ausbeuten, ohne auf sie sexuell fixiert zu sein, ohne eine Beziehung mit ihnen zu wollen und die meistens auch sog. normale Sexualität haben, trägt der individuell-psychologische Blick wenig zum Verständnis bei, eher hilft eine soziologische Blickweise - mit Kategorien wie Macht und Herrschaft - oder eine feministische Blickweise auf die Veränderung der Geschlechterverhältnisse weiter.

Bei seiner zweiten nicht-psychopathologischen Kategorie (den die Abhängigkeit der ihnen anvertrauten Kinder sexuell ausbeutenden Erwachsenen) beschränkt Krafft-Ebbing sich auffälligerweise auf Frauen. Zu jener Zeit überließ, wer es sich leisten konnte, die Erziehung seiner Kinder (mehrheitlich weiblichen) Angestellten; auch andere Autoren z.B. Sigmund Freud, berichteten von sexuellen Übergriffen. Dennoch frage ich mich, ob nicht ein patriachaler Blick die Sicht beschränkt hat - denn gleichzeitig waren diese angestellten Frauen häufig selber Opfer sexueller Ausbeutung durch den Herrn des Hauses oder seine erwachsenen Söhne. Krafft-Ebbing erwähnt zwar die "wollüstigen Erzieher", die ihre Zöglinge auspeitschen, möchte sie aber nicht einordnen. Was er aber total ausspart, ist der ganze Bereich der Internate - der paramilitärischen wie [14] der kirchlichen -,ob er davon nichts wußte oder ob er davor die Augen verschloß, kann ich nicht beurteilen. Heute wissen wir, nicht erst seit dem berüchtigten Kardinal Groer, wie häufig sexueller Mißbrauch in kirchlichen Institutionen vorkam und vorkommt und mit welcher Entschiedenheit und Macht die Kirche ihre Priester und sonstige Mitarbeiter schützt - gegen die Opfer.

Die dritte von Krafft-Ebbing zu den nicht-psychopathologischen Fällen gerechnete Gruppe, die Jugendlichen, die aus Potenz und anderen Ängsten sich nicht trauen, zu Gleichaltrigen bzw. zu Erwachsenen sexuelle Beziehungen einzugehen, und auf Kinder ausweichen, gibt es heute sicher auch noch, wenn auch nicht in so großer Zahl. Man könnte sie heute zu den sog. Ersatzobjekt-Tätern zählen, von denen ein Teil allerdings als neurotisch gestört anzusehen ist.

Auf eine - in der Literatur meist sehr vernachlässigte - Untergruppe pädosexuell handelnder Jugendlicher möchte ich hinweisen, die weder pädophil noch psychisch gestört sind, aber von der Umwelt dazu gemacht werden. (Aufklärung über Mythen der Pädophilie bedeutet für mich nicht nur, über Mythen der Pädophilen aufzuklären, sondern auch über Mythen über Pädophilie, wozu auch das falsche Unterstellen pädophiler [15] Neigungen gehört.) Ich meine eine Gruppe von mittel bis leicht geistig behinderten Menschen (die sich oft ohnehin in der Gesellschaft von Kindern wohler weil gleichberechtigter fühlen), die in der Pubertät oder danach Kinder sexuell belästigen, und in der Folge vorschnell und falsch als pädophil eingestuft und mit schweren Sanktionen belegt werden. Das reicht von totaler Kontrolle durch die Eltern bis hin zu einer lebenslangen Behandlung mit schweren, nebenwirkungsreichen Medikamenten wie Androcur - ab dem 17. Lebensjahr.

Hier schlägt ein Mythos zu, welcher geistige Behinderung und sexuelle Triebhaftigkeit bzw. Hemmungslosigkeit gleichsetzt, was nachweislich falsch ist. Diese Menschen sind in der Regel eher Opfer sexueller Attacken. Dieses Vorurteil ist verbunden mit einer Einstellung, die Menschen mit geistiger Behinderung am liebsten gar kein Recht auf Sexualität zugestehen möchte.

Wird das Problem erkannt, und der Jugendliche/junge Erwachsene erfährt eine Umgebung bzw. therapeutische Begleitung, in der seine sexuellen Bedürfnisse an sich akzeptiert und positiv bewertet werden, habe ich recht gute Erfahrungen gemacht. D.h. die Betroffenen konnten die Belästigung von Kindern aufgeben, selbst wenn für sie auf Dauer keine sexuelle Beziehung zu einem gleichaltrigen Erwachsenen möglich war, sie ihre sexuellen Bedürfnisse also auf Dauer kompensieren mußten. Allerdings ist in der Regel parallel eine therapeutische Arbeit mit der Umgebung (z.B. dem Heim) und den Eltern notwendig.

Nachdem sicherlich inzwischen deutlich ist, daß nicht jede pädophile/pädosexuelle Handlung auf Pädophilie/Pädosexualität schließen läßt, möchte ich noch einmal zur wirklichen, echten Pädophilie kommen, also zu jener Gruppe von Menschen, die Martin Dannecker die "strukturierten Pädophilen" nennt und für deren Neigung Krafft-Ebbing die Bezeichnung "Paedophilia erotica" schuf. Ich werde dabei von "Pädophilen" sprechen, weil es der geläufigste Ausdruck ist. Weniger verschleiernd und spezifischer wäre es, von "Pädosexualität" zu sprechen, weil das Spezifische - nicht das Ausschließliche - das bewußtseinsfähige sexuelle Interesse an Kindern ist.

Diese Gruppe hielt schon Krafft-Ebbing für klein, d.h. nur ein Bruchteil der "Unzucht mit Kindern" ausmachend; Rüdiger Lautmann hält 5% der pädosexuell aktiven Männer für pädophil - ausschließlich mit ihnen beschäftigt sich sein Buch. [16]

Im Folgenden möchte ich die mir wesentlich erscheinenden Charakteristika der Pädophilie aufzeigen, wobei deutlich werden wird, daß die zentralen Aussagen Krafft-Ebbings nach wie vor zutreffen.

1.  Es besteht eine primäre psychosexuelle Fixierung auf vorpubertäre Mädchen oder Jungen zwischen fünf bis vierzehn Jahren (es gibt zwei Gipfel in der Alterspräferenz: 5-6 Jahre und 11-12 Jahre). Dabei ist nicht das Alter als solches, sondern der jeweilige Entwicklungszustand entscheidend. Primär bedeutet im Sinne der zitierten Äußerungen Danneckers, in der Kindheit angelegt und dann ab der Pubertät bewußt bzw. "formiert" - sofern die pädosexuellen Wünsche/Phantasien nicht abgewehrt werden. Die ersten pädosexuellen Kontakte finden dann auch meist in der Pubertät statt.

2.  Die psychosexuelle Fixierung auf Kinder beinhaltet immer auch sexuelles Interesse an diesen, aber nicht ausschließlich ein sexuelles Interesse, bzw. das Interesse an den Kindern geht darüber hinaus, obwohl die Sexualität nie fehlt. Pädophile haben ein großes Interesse an sozialen Kontakten zu Kindern überhaupt. Pädophile verlieben sich in Kinder, wünschen sich echte reziproke Liebesbeziehungen zu Kindern - und müssen (wie bereits aufgeführt) an diesen Wünschen wegen der Ungleichzeitigkeit immer wieder scheitern.

Die nicht-sexuellen Wünsche der Pädophilen gegenüber Kindern werden oft als geschickte Tarnung/Maskierung ihres "eigentlich" ausschließlichen sexuellen Interesses verkannt. Diese Unterstellung ist ebenso wahr wie die Aussage, daß alle heterosexuellen Männer von Frauen "nur das Eine" wollen und alle Liebesgefühle, Zärtlichkeit, Wünsche mit ihnen zusammen zu sein reine Heuchelei seien.

3.  Pädophile idealisieren Kinder, vergleichbar der Anfangsidealisierung in einer Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen, nur viel grundsätzlicher, tiefer und anhaltender. Pädophile idealisieren auch die Kindheit an sich, allerdings nicht die eigenen, wozu sie auch meist wenig Anlaß haben.

4.  Viele Pädophile akzeptieren ihre psychosexuelle Fixierung anfangs nicht und versuchen, sie abzuwehren - manche mit "Erfolg", der aber fast immer mit neurotischen Symptomen und/oder sexuellen Störungen verbunden ist. [17]

In unserer Sexualmedizinischen Ambulanz habe ich eine Reihe eigentlich pädophiler Männer gesehen, die wegen Potenzproblemen und/oder schweren Depressionen kamen. Sie waren oft verheiratet, hatten sich irgendwann als bisexuell definiert, manchmal auch versucht, homosexuelle Beziehungen einzugehen, in denen sie ebenso impotent wie vorher in heterosexuellen Beziehungen waren. Ihre pädophilen Wünsche hatten nie zu realen Beziehungen mit Kindern geführt, sondern waren vielmehr mit heftigen Schuld- und Schamgefühlen verbunden und nur kurze Zeit bewußtseinsfähig gewesen. Letzteres hatte sich meist in der Pubertät ereignet, dann war eine asexuelle Phase gefolgt, in der sie Beziehungen überhaupt vermieden hatten, dann folgte der Versuch "normale" sexuelle Beziehungen einzugehen etc.

Eventuell werden manche von Ihnen solche Entwicklungen gut finden, weil diese pädophilen Männer immerhin keinem Kind etwas antun. Vielleicht können Sie aber auch angesichts des Unglücks dieser Patienten mit einer abgewehrten Pädophilie erahnen, welche psychisch stabilisierende, Depressionen verhindernde Funktion die Pädophilie hat. Im [18] wesentlichen geht es dabei (wie bei allen Perversionen) um die Funktion einer "narzißtischen Plombe" (Morgenthaler) mit Hilfe derer das (insbesondere durch Störung der männlichen Identität mit entsprechenden massiven Vernichtungs- und Kastrationsängsten) bedrohte Ich vor der Desintegration bewahrt wird. Im Unterschied zu den meisten anderen Perversionen ist bei der Pädophile die Möglichkeit der "szenischen Inszenierung" und der abgemilderten Integration der Perversion nur schwer möglich. Das ist die Tragik, von der Amendt spricht oder anders gesagt: Pädophilie ist die Lösung eines Konflikts, aber diese Lösung ist im Interesse der Kinder nicht akzeptierbar.

5.  Allen Pädophilen ist die strafrechtliche Verfolgung, die gesellschaftliche Ächtung und Diskriminierung früh bewußt. Wenn sie ihre Pädophilie nicht abwehren (bzw. nicht abwehren können, da Pädophilie ja bereits eine Abwehr/Konfliktlösung ist), fühlen sie sich zu unrecht von der Gesellschaft/Justiz verfolgt, da sie subjektiv den Kindern nichts Böses wollen, Kinder lieben, von ihnen geliebt werden wollen, sich in Kinder einfühlen, sich ihnen nahe/verwandt fühlen, sich um sie kümmern, sie unterstützen etc. An dieser subjektiven Überzeugung der Pädophilen ist vieles wahr (durch eine narzißtisch-symbiotische Identifizierung fühlen sie sich z.T. tatsächlich sehr gut in Kinder ein). Illusion an dieser Überzeugung ist (wie ausgeführt) das autonome sexuelle Interesse des Kindes an dem Erwachsenen. Die juristische Verfolgung führt Pädophilen zu (sekundären) Strategien, wie sie ihre Neigung leben können ohne aufzufallen. Von sexuellen Mißbrauchern fühlen sich strukturierte Pädophile meilenweit entfernt. Die häufige Betonung, daß sie nichts Gewaltsames täten, ist keine Schutzbehauptung, sondern meistens wahr. (Eine Grenzüberschreitung, ein Übergriff bleibt es dennoch.) Sie wünschen sich, daß das Kind - durch sie - glücklich wird. (Die Verleugnung der Bedeutung der Sexualität bei strukturierten Pädophilen ist unter anderem auch eine Folge der juristischen Verfolgung.)

6.  Wenn das Kind älter wird, d.h. die präferierte Altersspanne überschreitet, erlischt das sexuelle Interesse des Pädophilen. Bei längeren Beziehungen zu Kindern wird die Beziehung oft als freundschaftliche weitergeführt, d.h. der "nutritive" fürsorgliche Beziehungsanteil wird fortgeführt. Ich kenne eine Reihe von Jungen-Pädophilen, die ihre Ex-Freunde weiter betreuen, ältere Ratgeber für sie bleiben, sie mit Freundin empfangen etc. [19]

7.  Bei den sexuellen Praktiken überwiegen Streicheln und Masturbation. Meist masturbiert dabei der Erwachsene das Kind; er wünscht es sich auch umgekehrt, hat aber (zu Recht) die Befürchtung, daß das Kind das nicht zuläßt. Analverkehr und Vaginalverkehr sind eher selten. Insgesamt machen Pädophile mit Kindern sexuell deutlich weniger als das, was Erwachsene miteinander machen.

8.  In bezug auf die Verteilung der pädophilen Fixierung auf Jungen oder Mädchen sind mir keine genauen Zahlen bekannt. In meiner eigenen Erfahrung und in den mir bekannten Untersuchungen überwiegen bei den strukturierten Pädophilen deutlich die Jungen-Pädophilen. Unter den auf Mädchen fixierten strukturierten Pädophilen, die ich gesehen habe, waren nur ganz wenige, die sich dazu bekannten und ihre Neigung nicht als Not-Tat (z.B. Frust gegenüber der Ehefrau) erklärten. Ebenso selten wurden in diesen Fällen real längere Beziehungen zu Mädchen (mit sexuellen Kontakten) berichtet; längere heftige Verliebtheiten in Mädchen (vergleichbar denen von Louis Carroll, dem Verfasser von "Alice im Wunderland") jedoch schon.

Zum Schluß möchte ich noch erwähnen, daß eine Psychotherapie mit strukturierten Pädophilen schwierig ist, freiwillig (d.h. ohne Gerichtsauflage) auch selten zustande kommt, weil sie ihre pädophile Neigung als ichsynton erleben. Eine Psychotherapiemotivation ist meistens nur gegeben, wenn sie unter der Pädophilie leiden, das heißt z.B. unter dem Konflikt zwischen ihrer Neigung einerseits und dem gleichzeitigen Wissen andererseits, daß es dem Kind schadet. Das therapeutische Ziel solcher Patienten ist dann meist die Möglichkeit der Kontrolle ihrer pädophilen Wünsche. Eine Veränderung der sexuellen Präferenz (Fixierung) in Richtung einer homosexuellen Entwicklung im Laufe einer Psychotherapie halte ich für eine illusionäre Erwartung.

Wie Krafft-Ebbing zu seiner Zeit bin ich heute der Auffassung, daß strukturierte ("echte") Pädophile nur einen sehr kleinen Teil derjenigen Erwachsenen ausmachen, die Kinder sexuell ausbeuten. Eine einseitig gegen die Pädophilen gerichtete Verteufelung und Verfolgung greift deshalb m. E. zu kurz. Sie versperrt auch den Blick auf psychosoziale bzw. gesellschaftliche Entwicklungen, deren Analyse im Interesse des Schutzes der Kinder vor sexueller Ausbeutung dringend erforderlich wäre - ich denke dabei z.B. an das zunehmende Schwinden der Generationsschranke in den Familien. [20]

Fußnoten:

(1) Ich bin 1950 geboren und erinnere mich gut an Aussagen wie: "Unter Hitler gab es keine Sittlichkeitsverbrecher" u.ä.
(2) Der Hintergrund dieser Fragen war das "Rechtsgut" der ungestörten sexuellen Entwicklung des Kindes. Ein anderer Hintergrund lag darin, daß es damals viele Fälle gab, wo aufgrund haltloser Verdächtigungen (Anzeigen von Nachbarn etc.) vor jeder ernsthaften Überprüfung Kinder in Heime gesteckt, Familien auseinander gerissen wurden, und letztlich durch das ganze Verfahren mehr Schaden angerichtet wurde als durch den Vorfall selber.
(3) Inzwischen gibt es viele Enttäuschungen an der Utopie der sexuellen Befreiung, weil so viele Ängste in der Sexualität geblieben sind, trotz der nicht enden wollenden Veröffentlichungen über alle ihre Ausformungen.
(4) Alle Worte in dem Zusammenhang sind unglücklich: "homosexueller Pädophiler" ist falsch, weil ein Pädophiler eben keinen "Homo", keinen Mann begehrt, sondern Kinder; andere Worte wie "Knabenliebhaber" sind verharmlosend.
(5) In der Zeitschrift "Sexualität konkret".
(6) Das ist der Widerspruch: Einerseits ist die pädophile Orientierung auf die Sexualität des Kindes gerichtet, andererseits ist es immer Teil dieser Ideologie zu beteuern, die Sexualität sei eigentlich das Unwichtigste, es gehe ja ausschließlich um die Beziehung, - damit wird die Sexualität verleugnet.
(7) M. Dannecker 1987
(8) Ich habe in der Vorbereitung dieses Vortrages versucht, auch einige aktuellere Bücher zum Thema "sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche" zu lesen. Dabei ist mir aufgefallen, daß die Psychoanalyse unter einen Generalverdacht gestellt wird, den ich kurz ausräumen will. Es heißt immer: Seit Freud die Verführungstheorie aufgegeben und auf den ödipalen Konflikt und die kindlichen sexuellen Phantasien über Sexualität mit den Erwachsenen hingewiesen hat, hat er aus Feigheit bestritten, daß es real Inzest gibt. Das ist vereinfacht und falsch. Das Problem ist gerade umgekehrt: Gerade weil das Kind sexuelle Wünsche an die Eltern hat, wirkt der Übergriff so traumatisch. Daher kommen auch die Schuldgefühle bei den Opfern.
(9) Das Buch ist lesenswert, weil es dem Autor gelingt, Pädophile - jenseits von Begutachtungen in Strafprozessen - zum Sprechen zu bringen. Leider erliegt Lautmann aber auch der pädophilen Ideologie, insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit eines echten Konsenses in der Sexualität zwischen Erwachsenem und Kind.
(10) Stichwort "Krankheit statt Verbrechen"
(11) Alle Zitate stammen aus 11. Auflage, 1901. 1905 erschienen die "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" von Sigmund Freud, in denen er seine wesentlichen Theorien zur kindlichen Sexualität und zur Rolle der Sexualität bei der Entstehung von Neurosen und Perversionen formuliert.
(12) An meiner Tankstelle liegen seit einiger Zeit neben der Kasse Handschellen. Auf meine Frage berichtete mir der Tankwart, daß er etwa 10 Stück davon an Wochenenden verkauft - mit Sicherheit, nach meiner Einschätzung, mehrheitlich nicht an Menschen mit einer sado-masochistischen Perversion.

Literatur:

Amendt, Günter (1984): Nur die Sau rauslassen? Bei der Pädophilie-Diskussion sind viele Interessen im Spiel. Aber kaum die der Kinder. Sexualität konkret, Bd. 2, Zweitausendeins Verlag
Dannecker, Martin (1987): Bemerkungen zur strafrechtlichen Begutachtung der Pädosexualität. In: H. Jäger und E. Schorsch (Hrsg.) Sexualwissenschaft und Strafrecht, Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 62, Enke Verlag 1987
Ferenczi, Sandor (1932): Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: ders. Schriften zur Psychoanalyse, Bd. II, S. Fischer Verlag (Condito humana)
Krafft-Ebbing, Richard von (1901): Psychopathia sexualis, 11. Auflage, Enke Verlag
Lautmann, Rüdiger (1994): Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen. Ingrid Klein Verlag
Schorsch, Eberhard (1970): Stellungnahme in: Der Deutsche Bundestag, 6. Wahlperiode, Stenographischer Dienst: 28. ,29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für Strafrechtsreform, Bonn 23., 24. und 25. November 1970, Seite 981 ff.
Schorsch, Eberhard (1989): Kinderliebe. Veränderungen in der gesellschaftlichen Bewertung pädosexueller Kontakte. In: ders.: Perversion, Liebe, Gewalt. Beiträge zu Sexualforschung, Bd. 68, 1993, Enke Verlag.

Dipl. Psych. Sophinette Becker
Abteilung für Sexualwissenschaft
Klinikum der J. W. Goethe Universität
Theodor Stern Kai 7
D-60590 Frankfurt/M.
e-mail an Sophinette Becker

Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 38, 1/1997: 5-21.